Jesse Freedman
Privat
Jesse Freedman forschte drei Monate in Berlin
"Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit, drei Monate lang in Berlin forschen zu können. Ich habe in Deutschland jede Menge fachliche und private Kontakte geknüpft und neue Jobchancen für die Zukunft erschlossen."
Dank des Respekt & Wertschätzung Stipendiums der DAAD-Stiftung konnte der US-amerikanische Musikethnologe Jesse Freedman am Ethnologischen Museum in Berlin forschen und während des Aufenthalts seine Dissertation fertigstellen.
Hier berichtet er von seinen Erfahrungen in den Archiven und den Eindrücken, die er während seiner Zeit in Deutschland sammeln konnte:
Trotz der Beschränkungen während der Coronapandemie bot mir dieses Stipendium zahlreiche Möglichkeiten und legte zudem das Fundament für weitere langfristige Zukunftsprojekte in Deutschland. Mein wöchentlicher Hauptarbeitsort war der alte Standort des Ethnologischen Museums im Gebäudekomplex des Museums Europäischer Kulturen in Dahlem, denn dort befinden sich derzeit noch die Sammlungen, die mich interessieren.
In Zusammenarbeit mit einem anderen Musikethnologen, Dr. Sydney Hutchinson, reinigte und organisierte ich eine Sammlung von ungefähr 2.000 ostdeutschen Tonbändern. Darauf befinden sich Aufnahmen lateinamerikanischer Künstler und Künstlerinnen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren im DDR-Radio gespielt wurden. Diese Aufnahmen waren höchst aufschlussreich für meine Dissertation über chilenische Musiker und Musikerinnen in der DDR. Mit ihrer Hilfe konnte ich eine Reihe von Setlists mit wichtigen Live-Auftritten von Chilenen und Chileninnen beim Festival des Politischen Liedes ermitteln, die nirgendwo sonst veröffentlicht worden sind. Da diese Aufnahmen in Dahlem untergebracht sind, stellen sie einen bedeutenden Aspekt des Austauschs zwischen Musikwissenschaftler:innen und Rundfunkmitarbeiter:innen in Ost und West dar.
Jesse Freedman bei der Arbeit im Archiv
Dr. Hutchinson betreibt die Forschung auf diesem Gebiet, auf dem es noch viel zu entdecken gibt. Gemeinsam besprachen wir, wie ich nach Dahlem zurückkehren und wieder mit diesen Materialien – und insbesondere mit den chilenischen Aufnahmen – arbeiten könnte. Darüber hinaus konnte ich einige seltene lateinamerikanische Bücher und Lernmittel aus dem frühen und mittleren 20. Jahrhundert dokumentieren und inspizieren.
Neben meiner Zusammenarbeit mit dem Museum hatte ich Gelegenheit, in verschiedenen Archiven zu arbeiten, u. a. im Deutschen Musikarchiv in Leipzig und im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Potsdam. Dort konnte ich wichtige Primärquellen für meine Dissertation und die künftige Forschung zusammentragen, auf die ich in den USA keinen Zugriff habe. Besonders herausragend waren einige Transkriptionen von DDR-Radiosendungen, die ich im DRA einsehen konnte. Viele davon boten Einblicke in die Rolle und Verbreitung der „Weltmusik“ in der DDR, die bislang nie publiziert wurden und daher unbeachtet geblieben sind. Ich freue mich darauf, die Erforschung dieser Quellen fortsetzen zu können. Außerdem möchte ich ein neues Projekt zur Präsenz lateinamerikanischer Musik im ostdeutschen Rundfunk entwickeln und im kommenden Jahr publizieren.
Ich hatte auch Gelegenheit, einige ethnologische Interviews mit verschiedenen chilenischen Künstlern und Künstlerinnen sowie mit früheren Mitgliedern der DDR-Folk-Musikszene zu führen. Im Laufe von zwei Jahren hatte ich in Deutschland viele virtuelle Forschungskontakte geknüpft, umso mehr hat es mich gefreut, einige davon endlich persönlich kennenzulernen. Mehrere dieser Kontakte brachten Ephemera wie Briefe und Konzertprogramme mit, sodass ich im Rahmen dieser Treffen seltene Primärquellen zur DDR-Kultur erhielt.
Das Cover eines Spulentonbands
Dieses Stipendium wird sehr wahrscheinlich Auswirkungen auf meine Zukunftspläne und meine Forschungslaufbahn haben. Zurzeit schreibe ich Bewerbungen als Postdoktorand in verschiedenen deutschen Städten. Ich bin sehr froh über die Möglichkeit, in meiner wissenschaftlichen Arbeit enge Bindungen zu Deutschland aufrechtzuerhalten. Zwar blieb während dieses Aufenthalts keine Zeit für formellen Deutschunterricht, aber 2018 erhielt ich vom DAAD eine Förderung für einen zweimonatigen Intensivkurs, und nach dem jüngsten Aufenthalt fühle ich mich in der deutschen Sprache sehr sicher. Ich war in der Lage, mich in der Bürokratie und in den Archiven zurechtzufinden, deutschsprachige Freundschaften zu schließen und meine kulturelle Kompetenz deutlich zu erweitern. Nun hoffe ich, meine Sprach- und Kulturkenntnisse im nächsten Jahr in einer geförderten Postdoktorandenstelle weiter ausbauen zu können.
Während der Pandemie habe ich durch meine virtuellen Forschungskontakte mehrere Freundschaften in Deutschland geschlossen. Viele, die mich bei meiner Dissertation unterstützt haben, sind chilenische Musikschaffende, die während der chilenischen Militärdiktatur politisches Exil in der DDR fanden. Viele davon leben nach wie vor in Deutschland, sodass ich sie nach jahrelanger rein virtueller Zusammenarbeit endlich persönlich kennenlernen konnte. Über diese chilenischen Kontakte kamen mitunter weitere Verbindungen zu deutschen Wissenschaftler:innen und Musiker:innen zustande. Angesichts interessanter Gespräche auf Deutsch und Spanisch über die Geschichte der DDR dürften beide Seiten – meine Kontakte und ich – sehr zufrieden mit dieser Zusammenarbeit sein.
Leuchtschild aus dem Palast der Republik im Humboldt-Forum
Wegen der Pandemieauflagen verbrachte ich die meiste Zeit in meiner Wohnung oder im Museum. Allerdings habe ich viele Gelegenheiten genutzt, Teile der Stadt zu Fuß zu erkunden. Berlin hat eine faszinierende Kinokultur, weshalb ich an den Wochenenden meist Filmvorführungen besuchte. Mein Mitbewohner in dieser Zeit war Musiker, und ich konnte mehrere seiner Live-Auftritte in interessanten, unkonventionellen Locations in verschiedenen Vierteln miterleben. Dadurch habe ich spannende Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Teilen der Welt kennengelernt.
Aufgrund früherer Reisen und Aufenthalte in Berlin sowie in mehreren Ländern Europas und Südamerikas fiel es mir nicht schwer, mich in Berlin einzuleben. Allerdings habe ich einige Wochen gebraucht, mich daran zu gewöhnen, dass die Supermärkte sonntags geschlossen sind oder dass der Müll zu bestimmten Abholzeiten auf die Straße gestellt werden muss. Auch einige Feier- und Ruhetage, die es in den USA nicht gibt, waren mir neu. Der deutsche Lebensrhythmus, selbst in einer Großstadt wie Berlin, kommt mir viel geordneter vor als in den Vereinigten Staaten. Es imponiert mir, dass die Deutschen so viel Wert darauf legen, zu entspannen und von der Arbeit abzuschalten. Vielen Menschen in Amerika könnte es guttun, sich einige dieser Erholungsstrategien zu eigen zu machen.
Während meines Stipendiums habe ich einen Artikel geschrieben, der nach Abschluss des Peer Reviews in einer renommierten musikwissenschaftlichen Publikation erscheinen wird. Auch meine Dissertation konnte ich abschließen. Sowohl der Artikel als auch meine Dissertation enthalten Danksagungen an den DAAD und Herrn Aven.
Stand: Januar 2022. Die englische Version ist das Original.