Sher Muhammad

Privat

Demonstration gegen die russische Invasion in die Ukraine, 27.02.2022

"Allein zu leben und zufrieden zu sein, ist vielleicht die wertvollste Lektion, die man in Berlin lernen kann. Dabei geht es nicht nur um das Gefühl von Einsamkeit und Heimweh, sondern auch darum, seine Zeit effektiv zu nutzen."

Durch ein Max G. Huber-Stipendium konnte Sher Muhammad ein Forschungsprojekt am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der Humboldt-Universität zu Berlin durchführen, das er durch viele eigene Erfahrungen komplementierte.

Im Folgenden berichtet er von diesen:

Die verschiedenen Konferenzen, Workshops und Kurse in Deutschland (insgesamt sechs), an denen ich vor meinem Stipendienaufenthalt teilgenommen hatte, weckten in mir den Wunsch, mich nach Abschluss meiner Promotion auf dieses prestigeträchtige Kurzzeit-Forschungsstipendium zu bewerben. Ermöglicht wurde meine Forschung am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der Humboldt-Universität zu Berlin durch ein Max G. Huber Stipendium der DAAD-Stiftung. Ich bin sehr froh darüber, dass die akademische Beziehung, die ich vor 15 Jahren mit PD Dr. Andrea Fleschenberg während ihrer Tätigkeit als DAAD-Professorin in Pakistan aufbaute, fortgesetzt werden konnte und sogar zu dieser Forschungszusammenarbeit geführt hat. Mein Aufenthalt am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) war für mich eine einmalige akademische Gelegenheit, da ich dort auf eine Vielzahl an Ressourcen zugreifen konnte, die mir in Pakistan nicht zugänglich gewesen wären.

Mein übergreifendes Forschungsziel war eine Untersuchung, wie der steigende Frauenanteil im pakistanischen Parlament die politische Vertretung von „Fraueninteressen“ in den parlamentarischen Vorgängen (Debatten zu Gesetzentwürfen/-initiativen seitens einzelner Abgeordneter oder der Regierung) und den daraus resultierenden gesetzgeberischen Maßnahmen beeinflusst. Zu diesem Zweck wurde das Fallbeispiel Pakistan – eines der ersten Länder weltweit, die eine Frauenquote eingeführt haben – ausgewählt, um die Theorie der kritischen Masse im Rahmen einer Studie zum Globalen Süden zu testen. Eine solche Studie stellt ein aktuelles Desiderat hinsichtlich der empirischen Forschung und der Theoriebildung dar. Dazu wurde eine qualitative Analyse teilstrukturierter Interviews mit weiblichen Abgeordneten durchgeführt, ebenso eine gründliche Analyse der Sitzungen dreier Legislaturperioden seit der Einführung der Quotenregelung 2001/02, nämlich der 12. (2002–2007), 13. (2008–2013) und 14. Gesetzgebungsperiode (2013–2018).

Großer Dank gebührt meiner Mentorin, PD Dr. Andrea Fleschenberg, für die Ratschläge und die Unterstützung, die ich am ZtG in Berlin erhalten habe. Auch Dr. Gabriele Jähnert, Geschäftsführerin des Zentrums für Transdisziplinäre Geschlechterstudien, stand mir während meiner dortigen Tätigkeit jederzeit zur Seite, wenn ich Fragen hatte oder Hilfe benötigte. Weiterhin gilt mein Dank Amy Visram und Claudia Küster, die mich bei Problemen im Rahmen meiner Arbeit immer unterstützt haben.

Durch meinen Aufenthalt in Berlin hatte ich die Möglichkeit, an mehreren internationalen Seminaren und Konferenzen in Belgien, Ungarn, Paris und Italien teilzunehmen, auf denen ich meine Forschung präsentierte. Dies war eine fantastische Gelegenheit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Aus dem Kurzzeitstipendium hat sich eine starke wissenschaftliche Zusammenarbeit für die Zukunft ergeben.

In meiner Zeit in Berlin habe ich viel über die deutsche Kultur erfahren. Vor allem zwei Ereignisse haben nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen. Das erste spielte sich während einer Konferenz an der Universität Kassel ab, an der ich teilnahm. In einer Sitzung sah ich eine Frau, die ihr Baby im Schoß hielt. Dieses Erlebnis war sprichwörtlich „bewusstseinsverändernd“ und zeigte mir, wie flexibel und angenehm das Studium an deutschen Hochschulen ist. In der Bildungskultur meines Heimatlandes wäre es unvorstellbar, dass eine Mutter ihr Kind zu einer internationalen Konferenz mitbringen würde. Das Erlebnis veranschaulicht, wie wichtig Flexibilität ist, denn sie macht aus einer langweiligen eine freudvolle Lernerfahrung.

Das zweite Erlebnis betrifft eine ältere Dame, die ich jeden Tag auf dem Weg ins Büro sah. Sie saß immer auf dem Boden direkt unter einer Brücke. Trotz strenger Kälte ließ sie sich nicht davon abhalten, in eine Decke eingewickelt ein Buch zu lesen. Diese rege Lesekultur in Deutschland war ein unvergesslicher Eindruck.

Muhammad Collage Baby Obdachlose

Privat

links: Mutter mit Baby auf einer Konferenz in Kassel; rechts: Obdachlose Frau liest

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gingen in Berlins Mitte Tausende Menschen auf die Straßen, was international viel Aufmerksamkeit erregte. An den Demonstrationen beteiligten sich praktisch alle Altersgruppen, darunter auch viele Familien mit kleinen Kindern. Dies war ein klares Zeichen für die Abneigung der Deutschen gegenüber Krieg und ihre Hingabe an den Frieden.

Die öffentlichen Verkehrssysteme in Deutschland sind im Großen und Ganzen ausgezeichnet, und ich gratuliere der deutschen Regierung zu der innovativen Idee, den steigenden Ölpreisen einen neuen Tarif in Höhe von neun Euro entgegenzusetzen. Mit diesem sogenannten 9-Euro-Ticket (Anm. d. Red.: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/faq-9-euro-ticket-2028756) konnten Fahrgäste für nur neun Euro im Monat alle lokalen und regionalen Züge und Busse im ganzen Land nutzen. Das Angebot erstreckte sich auf Juni, Juli und August 2022 und wurde in Erwartung einer weltweiten Energiekrise 2021/22 vorbereitet. Aus meiner Sicht ist es ein gutes Beispiel für das Paradigma eines Wohlfahrtsstaates.

Die größte Herausforderung bei meinem Umzug nach Berlin war die Wohnungssuche. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, warum das so ist, aber aus Gesprächen mit vielen Einheimischen schließe ich, dass die Hauptursache für den Wohnungsmangel der kontinuierliche Bevölkerungszuwachs Berlins ist (Anm. d. Red.: zu dieser Zeit vor allem auch durch Geflüchtete). Meiner Erfahrung nach kann eine asiatische Herkunft die Wohnungssuche in Berlin ebenfalls erschweren. Ich musste meinen Wohnort mehrfach wechseln, wodurch ich Menschen aus allen Schichten und Berufen kennenlernte. Ein Höhepunkt meiner Zeit in Deutschland war eine Wohngemeinschaft mit zwei deutschen Frauen, darunter eine Journalistin, die sich für pakistanische Kultur und Politik interessiert. Mit ihr habe ich beim Kaffee in der Küche viele angeregte Diskussionen geführt. Ich bin sehr froh darüber, dass wir diese Beziehung aufrechterhalten können. Außerdem teilte ich meine Wohnung mit einer Philosophie- und Deutschlehrerin, die über die missliche Lage pakistanischer Frauen sehr besorgt war. Sie schenkte mir sogar ein Buch. In Pakistan ist ein solcher Lebensstil einfach undenkbar. Dabei könnte diese Art des Zusammenlebens Ausländerinnen und Ausländern die gesellschaftlichen und kulturellen Normen Deutschlands näherbringen und langlebige Freundschaften begründen.

Eine bewundernswerte soziale Norm in Deutschland ist, dass Männer und Frauen die Hausarbeit zu gleichen Teilen übernehmen, auch das Kochen und Putzen. Nach meinem sechsmonatigen Aufenthalt in Berlin bin ich nun in der Lage, neben der Unterstützung meiner Familie für mich selbst zu kochen und mein Zimmer zu reinigen. Für mich als Mann aus einer südasiatischen Gesellschaft ist das eine wesentliche Veränderung, denn wir verlassen uns beim Hausputz und beim Kochen auf unsere weiblichen Familienmitglieder.

Muhammad Büro

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Herr Muhammad in seinem Büro

Das Leben in Berlin war für mich nicht einfach, da ich mich sehr einsam fühlte. Allein zu leben und zufrieden zu sein, ist vielleicht die wertvollste Lektion, die man in Berlin lernen kann. Dabei geht es nicht nur um das Gefühl von Einsamkeit und Heimweh, sondern auch darum, seine Zeit effektiv zu nutzen. Da die Stadt und die Universität in den ersten beiden Monaten meines Aufenthalts Corona-Beschränkungen unterlagen, verbrachte ich viel Zeit allein. Immer wenn ich den Kopf frei bekommen, mich entspannen oder negative Gefühle loswerden wollte, ging ich in der Stadt eine Runde spazieren oder joggen.

Am Ende meines Stipendiums konnte ich eine Beförderung zum Associate Professor erreichen. Es ist der Gipfel meiner akademischen Laufbahn und die Erfüllung eines lebenslangen Traums für jeden, der in der Forschung tätig ist.

Während meiner Zeit am ZtG wurde ein Vorschlag für einen Fachartikel mit dem Arbeitstitel „Asian Women Parliamentarians Swimming against the Tides of Political Ruptures, (Post-) Conflict, and Authoritarianisms“ (Weibliche Parlamentsabgeordnete in Asien schwimmen gegen den Strom von politischen Umbrüchen, [Post-]Konflikten und autoritären Tendenzen) entwickelt. Nachdem ich einen Vorschlag für meine Rolle als Gastlektor neben PD Dr. Andrea Fleschenberg und Ella Prihatini, PhD, Dozentin an der Binus University in Indonesien, erarbeitet habe, beabsichtige ich, im Sommer nach Berlin zurückzukehren, um diese Aufgabe zu beenden. Der Artikel wird den bisherigen Wissensstand zur politischen Repräsentation von Frauen in Asien bereichern.

Meine Forschung wäre ohne die großzügige Unterstützung durch die Familie von Herrn Huber nicht möglich gewesen. Daher wollte ich die Familie Huber besuchen, um mich persönlich zu bedanken, was mir aber leider nicht möglich war. Dafür danke ich Stefanie Lohmann von der DAAD-Stiftung, die der Familie ein Geschenk zukommen ließ, das ich aus Pakistan mitgebracht hatte. Ich bin der Familie Huber zu großem Dank verpflichtet, da sie mir die finanzielle Unterstützung gewährt hat, um meinen Aufenthalt an der Humboldt-Universität zu Berlin zu ermöglichen.

In der Zeitschrift "International Quarterly for Asian Studies (IAQ)" findet sich eine Buchbesprechung von Herrn Sher Muhammad zum von Devin K. Joshi und Christian Echle herausgegebenen Band Substantive Representation of Women in Asian Parliaments.

Anm. d. Red.: Es ehrt die DAAD-Stiftung, dass einer ihrer Stipendiaten mit einem solch bemerkenswerten Forschungsbereich uns einen derart individuellen Blick in seine wissenschaftlichen und persönlichen Eindrücke ermöglicht.

Stand: Dezember 2022. Die englische Version ist das Original.