Janek Becker
Privat
Janek Becker forscht zu Freizeitaktivitäten in marginalisierten Quartieren Brasiliens. Dieses Foto war Teil seiner persönlichen Inspiration.
"Über den Forschungsaufenthalt, der durch das Gustav Schübeck-Stipendium ermöglicht wurde, konnte ich mir neue Perspektiven erschließen und viele Menschen kennenlernen, die mich persönlich stark geprägt haben und meine akademische Laufbahn schon jetzt positiv beeinflusst haben. Ohne das Stipendium wären es nicht möglich gewesen, den Feldaufenthalt in dieser Form zu realisieren, weshalb ich der DAAD-Stiftung sehr dankbar bin."
Janek Becker ist Doktorand der Geographie, der dank des Gustav Schübeck Stipendiums der DAAD-Stiftung seine Feldforschung in Brasilien durchführen konnte.
Im Folgenden berichtet er von seinem Dissertationsprojekt und seinen Eindrücken vom Forschen und Leben in der Comunidade do Bode.
Nachdem ich im Bachelor und Master jeweils ein Auslandsemester in Rio de Janeiro und somit längere Aufenthalte in Brasilien durchgeführt hatte, konnte ich dank der Förderung über das Gustav Schübeck-Stipendium meinen ersten Forschungsaufenthalt im Rahmen meiner Promotion im Fach Geographie in Recife realisieren. In meinem Dissertationsprojekt beschäftige ich mich mit Freizeitpraktiken in marginalisierten Quartieren in Brasilien. Der von mir gewählte ethnographische Forschungsansatz machte einen Feldaufenthalt unabdingbar, um neue Perspektiven auf Freizeitpraktiken zu eröffnen und meine eigenen Denkmuster zu hinterfragen.
Über bereits bestehende Kontakte hatte ich die Möglichkeit für die Zeit meines Aufenthalts direkt in der Comunidade do Bode zu wohnen und dort in den Alltag einzutauchen und meine Forschung voranzubringen. Zudem hatte ich bereits Kontakt zum Geographischen Institut der Universidade Federal de Pernambuco (UFPE) und wurde dort als visiting PhD aufgenommen, sodass ich eine Betreuungsperson und einen Arbeitsplatz hatte sowie an regelmäßigen Arbeitsgruppentreffen mit zwischen fünf und zehn brasilianischen Forscher*innen teilnehmen konnte und auch heute noch digital teilnehme. Diese Verbindung zur Universität hat mir neben dem akademischen Austausch mit PhD-Studierenden und meinem Betreuer auch die Möglichkeit gegeben, regelmäßig einen Raum außerhalb meines Feldes zu haben, in dem ich mich und das Erlebte reflektieren und meine Aufzeichnungen ordnen konnte. Zudem konnte ich über offizielle Schreiben der Universität Zugang zu Interviewpartner in der Stadtverwaltung bekommen und erste Interviews in diesem Kontext führen.
Das Centro de Educação und Tapioca-Stand gegenüber des Geographischen Instituts der UFPE
Die Möglichkeit, dass ich direkt im Forschungsfeld gemeinsam mit anderen Bewohner*innen aus der Comunidade do Bode untergebracht war, gab mir eine hervorragende Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und führte zu einem guten Zugang zum Feld. Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung führte ich ständig Feldnotizen, die ich im Laufe meines Aufenthalts immer intensiver mit weiteren medialen Zugängen bereicherte. Basierend auf meinen Felderfahrungen erweiterte ich die Feldnotizen durch Fotos, Sprachaufnahmen und Soundscapes, um meine Erfahrungen und damit in Verbindung stehende Gefühle und Emotionen nachhaltig festzuhalten. Diese Erhebungen möchte ich in der Auswertung auch für eine autoethnographische Reflexion meiner Forschung nutzen.
In der zweiten Woche begann ich mit einer weiteren zentralen Methode, dem Go-Along mit Bewohner*innen. Durch dieses „gemeinsame Spazierengehen“ habe ich einen besseren Zugang zur Raumwahrnehmung der Bewohner*innen bekommen, konnte Freizeiträume ausmachen, Alltagspraktiken besser einordnen und räumliche Kontexte besser verstehen. Darüber hinaus konnte ich durch die Go-Alongs einen Fokusraum ausmachen, den ich im Weiteren näher über Beobachtungen und Soundscapes betrachtet habe. Diesen ausgewählten Raum habe ich dann, bereits gegen Ende meines Aufenthalts, im Rahmen eines Vortrags auf einer Methodenkonferenz als Fallbeispiel genutzt (siehe Abstracts Booklet der „SMUS Conference Brazil 2022“).
Seit dem ersten Moment im Bode wurde ich herzlich aufgenommen und konnte direkt in das Leben und Arbeiten vor Ort eintauchen. Durch das Zusammenleben auf kleinem Raum mit mehreren Menschen in einem Haushalt, hatte ich eine intensive, schöne und manchmal auch anstrengende Zeit, bei der ich (als einzige nicht in Brasilien aufgewachsene Person) aber auch meine Mitbewohner*innen vorhandene Denkweisen reflektiert haben und bestehende Vorurteile abbauen konnten. Neben den täglichen Aufgaben des Haushalts, konnte ich mich aber auch in die Arbeit eines Sozial- und Bildungskollektivs einbringen. Dort habe ich bei der Verwaltung der Stadtteilsbibliothek, bei Durchführung von Kulturveranstaltungen (Samba de Coco-Treffen, Kino für Kinder und Jugendliche uvm.) unterstützt und bei der Etablierung eines Rádio Comunitários helfen können.
Diese Einbindung in meinen Alltag hat mir viele Zugänge ermöglicht und mir gleichzeitig ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben. Trotzdem war meine eigene Positionierung als Forschender und meine Privilegiertheit, als weiß gelesener deutscher Mann, sehr präsent und ein häufiges Diskussionsthema. Diese immerwährende Reflexion meiner eigenen Rolle, Zugehörigkeit und Fremdzuschreibungen waren zwar teilweise anstrengend, haben mir aber auch viele neue Zugänge und ein anderes Verständnis für alltäglich Stigmatisierungsprozesse geben können. Trotzdem wurde ich herzlich in der Gemeinschaft aufgenommen und konnte sogar einige neue Freundschaften schließen.
Zudem habe ich eine neue tiefgehende Perspektive auf das Leben in brasilianischen Großstädten bekommen, die mich, auch wenn ich mich zuvor schon mit Favelas in Brasilien beschäftigt habe, positiv überrascht hat. Persönlich werde ich mich auch in Zukunft gerne an die musikalische Vielfalt und alltäglich Präsenz von Musik im Alltag erinnern. Von Brega-Funk, Manguebeat über Forró bis Coco und Maracatu (uvm.) durfte ich neue Stile und Rhythmen kennenlernen und mein Wissen zu bereits bekannten weiter vertiefen. Außerdem hatte ich Glück, dass ich zur selben Zeit des Graffiti-Festival Pão e Tinta in Bode war. Auch der morgendliche Munguzá (süßer Brei aus gelbem und weißem Mais mit Zucker und Zimt), Kaffee und die vielen Gespräche an einem der wenigen zentralen Plätze wird mir in Zukunft sicherlich fehlen. Ich bin unglaublich froh darüber, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, über den Aufenthalt in die so reichhaltige Kultur des Nordostens Brasilien einzutauchen und auch einiges neues über die Geschichte der Region zu erfahren.
Graffiti-Festival in Bode
Erste Ergebnisse, die ich bereits jetzt ausmachen konnte, sind die Bestätigung der Komplexität marginalisierter Quartiere in Brasilien. Keine Favela ist wie die andere und auch innerhalb dieser als marginalisiert bezeichneten Räume sind Bebauung, Status und Lebensverhältnisse sehr heterogen. Die Stigmatisierung im Alltag und dadurch auch die Beeinflussung von Freizeitpraktiken sind jedoch omnipräsent. Die im Rahmen der Förderung durchgeführte erste Feldforschung ist die Grundlage für die ersten zwei Veröffentlichungen meiner kumulativen Dissertation.
Seit meiner Rückkehr bin ich dabei, mein erstes Paper zur räumlichen Analyse von Freizeitpraktiken in marginalisierten Quartieren zu schreiben und meine Forschungsdaten auszuwerten. Zudem möchte ich das Fallbeispiel auf der Grundlage meines Vortrags auf der SMUS Conference hinsichtlich der raum-zeitlichen Analyse von Freizeitpraktiken weiter ausarbeiten. Für das nächste Jahr plane ich bereits den nächsten von insgesamt drei Feldaufenthalten, um weiter auf das angrenzende Sozialwohnungsbauprojekt und die planerische Perspektive auf Freizeiträume in marginalisierten Räumen einzugehen und an meine bereits geführten Interviews anzuknüpfen.
Der hier beschriebene Aufenthalt hat mir neben zahllosen wichtigen akademischen und privaten Kontakten einen tiefen Einblick gegeben, der mich persönlich und meinen wissenschaftlichen Werdegang bereits jetzt beeinflusst hat. Ich bin der DAAD-Stiftung sehr dankbar, diese Erfahrung möglich gemacht zu haben. Auch für die Herzlichkeit und Offenheit meiner Gastgeber*innen und der Bewohner*innen der Comunidade do Bode mir gegenüber bin ich dankbar und freue mich den Kontakt weiterhin aufrechtzuerhalten.
Stand: Februar 2023.